Resilienz: die Kunst der psychischen Widerstandskraft.

Resilienz: die Kunst der psychischen Widerstandskraft.

Was hilft uns, die häusliche Isolation trotz der Einschränkungen gut zu überstehen?

Ist die Situation wirklich so beispiellos? Oder ist überliefert, wie vorangegangene Generationen mit besonderen Belastungen umgegangen sind?

Um diese Fragen zu beantworten, habe ich die bestmögliche Interviewpartnerin gefunden: Christel Kruppa, Jahrgang 1953, ist Systemische Familientherapeutin mit über 20 Jahren Erfahrung in der Paar-, Lebens-, Familien und Erziehungsberatung. Sie ist über 40 Jahre verheiratet und hat vier Kinder, ihre jüngste Tochter bin ich.

EH: Ich lebe gerade in einer ganz besonderen Situation: mit drei kleinen Kindern in einer Stadtwohnung, Schulen und Kindergärten geschlossen, ohne Zugang zum Park, ohne Kindermädchen und ohne Putzfrau. Mein Mann arbeitet Vollzeit im Homeoffice. Ich denke in letzter Zeit oft an Dich, und wie Du das alles geschafft hast damals mit vier Kindern. Und ich denke oft an meine Großeltern und an deren Eltern, unter welchen Bedingungen sie gelebt und trotzdem ihren Humor nicht verloren haben. Diese Gedanken helfen mir durch den Tag. Was ist Dein hilfreichster Gedanke in diesen Tagen?

CK: Es bleibt nichts wie es ist. Das klingt vielleicht banal, aber Leben ist stetige Veränderung bzw. Entwicklung und zeitweise auch Herausforderung. Herausforderungen setzen bei mir neue Energien frei und lassen mich neue Lösungsstrategien suchen. Dann bin ich aktiv und lasse mich nicht von Ängsten lähmen. Meine Großeltern haben zwei Weltkriege überlebt und hatten ganz existenzielle Probleme zu bewältigen (…) Ich denke jetzt auch oft an meine Mutter, die lebensklug war und uns Kinder davor warnte, uns nur um uns selbst zu drehen. Es ist wichtig, die Gefühle und Nöte der Menschen in der Umgebung wahrzunehmen, sich für eine gute Sache zu engagieren und zu handeln.

Es hat nicht alles einen erkennbaren Sinn, was geschieht. Aber wir dürfen immer wieder die Hoffnung haben, dass trotz der Ängste und Sorgen alles einen guten Ausgang nehmen kann.

„Meine Mutter warnte mich davor, mich nur um mich selbst zu drehen“.
Christel Kruppa

EH: Jetzt mal provokativ gefragt: es könnte doch so schön sein, mal Zuhause zu sein und keine Termine zu haben. Warum ist das Leben in Isolation so belastend?

CK: Wir sind soziale Wesen und brauchen für unsere Identitätsfindung das Gegenüber, das Du. Ohne menschliche Resonanz verkümmern wir physisch und psychisch, nicht nur als Kleinkinder. Wir sind aufeinander angewiesen, allen Freiheits- und Autonomiebestrebungen des modernen Menschen zum Trotz. (…) Auch das Zusammenleben auf engem Raum (das Zuhause) über mehrere Wochen oder evtl. Monate ohne die gewohnten Fluchtmöglichkeiten kann sehr belastend sein. Besonders leiden die Menschen unter der Isolation, die in Einrichtungen leben (Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser, Flüchtlingsunterkünfte, Gefängnisse etc.) und keine persönlichen Kontakte von außen haben dürfen. Die in einer geräumigen Wohnung lebende, medial und finanziell gut ausgestattete Mittelschichtfamilie ist nicht den größten Belastungen in dieser Zeit ausgesetzt, sie muss „nur“ auf gewohnten Luxus verzichten.

EH: Ich kenne Leute, die machen sich sehr viele Sorgen um ihre Gesundheit, aber auch darum, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Sorgen, um die öffentliche Sicherheit. Ängste, ihre Angehörige, die weit weg wohnen, nicht mehr wiederzusehen. Was rätst Du diesen Menschen?

CK: Es gibt kein Recht auf die eigene Gesundheit bzw. Unversehrtheit, größtmögliche Sicherheit und lebenslange Abwesenheit finanzieller Probleme. Wie sich Tag und Nacht abwechseln, verändern sich Lebenssituationen und wenn es gut geht, machen sie uns demütiger und bescheidener bzw. dankbarer für all das Gute, was uns bisher geschenkt wurde. Trennungen (gewollte und ungewollte) gehören zu unserem Leben und den Umgang damit müssen wir lernen.

EH: Können wir psychische Widerstandskraft erlernen? Was hilft uns, die häusliche Isolation trotz Einschränkungen gut zu überstehen?

CK: Es geht darum, den Alltag im Ausnahmezustand zu bewältigen. Das Fachwort dafür ist Resilienz, die sich aus Anpassungskraft, Widerstandskraft und Veränderungskraft zusammensetzt. Damit klug zu jonglieren, ist eine Lebenskunst.

EH: Zunächst zur Anpassungskraft. Hier geht es darum, sich soweit wie nötig und so schnell wie möglich an veränderte Situationen anzupassen und die Realität mit ihren Chancen und Risiken zu sehen.

CK: Akzeptieren müssen wir z.B. das Unveränderliche des Todes. Er steht am Ende jeden Lebens, aber das Weiterleben der Angehörigen ist gestaltbar. Die Zeit der Trauer muss sein, aber danach kommt etwas Neues, wenn wir es zulassen. Ein anderes Beispiel ist die jeweilige Lebenssituation: bin ich Mutter, Ehefrau, erwachsene Tochter, Schwester, Schwiegertochter, berufstätig… daraus ergeben sich Konsequenzen, die zu akzeptieren sind. Aber die Beziehungen in den o.g. Rollen sind zum Glück veränderbar, was aber auch ein schmerzhafter Prozess sein kann (Trennungen, Kontaktabbrüche, Kinder gehen aus dem Haus, Eltern werden pflegebedürftig etc.). Ich habe in der Beratungspraxis erlebt, dass das Unveränderliche z.B. Krankheit, Trennung, Tod der Eltern oder Kinder auch nach langen Zeiträumen nicht akzeptiert werden konnte, sondern ein aufreibender Kampf gegen die Realität geführt wurde. Es werden dann Schuldige gesucht und gefunden (!), was die Beziehungen oft endgültig zerstört.

EH: Und die Widerstandskraft, wie finde ich die in den Zeiten der Isolation?

CK: Zerstörerischen Zuständen Widerstand zu leisten ist sinnvoll, wenn man die Kraft und den Mut hat und sich nicht als Einzelkämpfer „opfert“. Der Zusammenschluss mit Gleichgesinnten ist enorm wichtig. Vor genau 75 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer nach jahrelanger Haft ermordet. Er war ein außergewöhnlicher Widerstandskämpfer, der sein positives Menschenbild und die Vision einer besseren Welt nach der NS-Diktatur nie aufgegeben hat. Er sah sich trotz Einzelhaft mit anderen Widerständlern weltweit verbunden, hat wunderbare tröstende Texte verfasst und war auch seinen Aufsehern gut gesonnen. Aber er berichtete auch von Selbstzweifeln und Ängsten, die starke Menschen vor Stolz bewahren. Widerstand ist eine geistige Haltung, die sich mit dem Sinn des Lebens auseinandersetzt. Dazu brauchen wir Menschen, die uns Vorbild sind und Mut machen.

EH: Ich habe den Eindruck, viele nutzen diese Zeit des Stillstands für mehr Reflexion und hinterfragen ihre aktuelle Lebens- und Arbeitssituation.

CK: Ja, das ist der dritte Punkt. Die Veränderungskraft führt in die Zukunft, in die Zeit nach der Krise, wenn sie bewältigt ist. Dann kann ich mich als Handelnde wahrnehmen, wieder Kontrolle über meinen Alltag finden und selbstwirksam sein. Mir haben in schwierigen Situationen sehr geholfen:

  • Zuversicht (Hoffnung, dass es anders wird) zu haben
  • Lösungsorientierung (nicht für alles eine Lösung parat haben, sondern eine suchen) und
  • Verantwortung zu übernehmen (was kann ich jetzt tun?)
  • Auch die Sinnfrage zu stellen bei allem, was man tut oder lässt, kann Orientierung in Krisenzeiten geben.
  • Dazu glaube ich, dass ich alleine nicht viel ausrichten kann; es gibt höhere Mächte, die eingreifen und Dinge zum guten Ende führen können.

EH: Was hast Du konkret von Deinen Eltern und Großeltern gelernt, die einen oder sogar zwei Weltkriege und Zeiten der Entbehrung erlebt haben?

CK: Meine Eltern und Großeltern haben durch ihr Leben, wie ich es in Erinnerung habe und durch ihre Geschichten, die sie erzählt haben, mir folgendes vermittelt: alleine kann man in schwierigen Zeiten nicht viel ausrichten; man muss sich vernetzen, Vertrauen haben und die Not anderer wahrnehmen. Das Wenige, was man hat, zu teilen macht reicher als Gier. (…) Auch habe ich im Elternhaus ganz praktisch viele Tätigkeiten des Alltags gelernt, um mir selbst und anderen helfen zu können. Das schaffte früh Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten, was in späteren Krisenzeiten ein wertvoller Schatz war und immer noch ist.

EH: Erzähl uns aus Deiner Beraterpraxis: was ist ein sicheres Mittel, um in einer akuten Krise schnelle Linderung zu spüren?

CK: Zu seinen Gefühlen zu stehen und sich mit anderen vertrauenswürdigen Menschen auszutauschen, kann sehr entlastend sein. Meistens verengen sich unsere Gedanken in einer Krise und wir drehen uns im Kreis. Ein Ausweg kann ein Beratungs- oder Therapiegespräch sein, damit sich neue Lösungsstrategien eröffnen. Bisher Unmögliches darf gedacht oder erträumt werden und im besten Fall fühlt sich der Klient/die Klientin wieder entscheidungs- und handlungsfähig.

EH: Ich danke Dir für dieses Interview, liebe Mama!