Das beste Mittel gegen Überforderung ist Selbstzuwendung.
Das beste Mittel gegen Überforderung ist Selbstzuwendung.
NICHTS BEWEGT SICH und doch rasen die Gedanken wie wild. Diesen „rasenden Stillstand“ beobachte ich nicht nur in Organisationen und bei Einzelpersonen, die tiefgreifende Veränderungen durchmachen. Sondern in der Quarantäne auch an mir selbst. Wie gelingt Selbstmanagement in der Krise? Was kann ich gegen Überforderung tun? Diese Fragen stelle ich Ariane Seidel. Hier teile ich, was sie mir geantwortet hat. Denn die Erkenntnisse aus der Meditationsforschung, aus Neurologie und Kardiologie sind konkret und leicht umsetzbar. Für alle, die gerne eine Methode ausprobieren wollen: ihr findet auf meinem YouTube Kanal Change Management & Coaching eine von ihr selbst gesprochene Körperreise zur Entspannung.
Ariane Seidel begleitet seit mehr als 20 Jahren mit ihrem kommunikations-psychologischen und systemischen Hintergrund Menschen innerhalb und außerhalb von Organisationen durch Krisen, Veränderungen und Konflikte. Ihre Unternehmung heißt „systemisch bewegen“. Ich kenne Ariane seit 2007 und schätze sie als Kollegin, Mentorin und Freundin.
EH: Ariane, wir leben aktuell in einer widersprüchlichen Zeit. Zum einen sind wir aktuell in der Quarantäne im Stillstand, ohne Reisen, ohne viel Bewegung, ohne physischen Kontakt zu Anderen. Andererseits lernen wir so schnell wie nie, mit diesen neuen Gegebenheiten umzugehen, wir nutzen Skype und Zoom für virtuelle Meetings, mit YouTube und Netflix holen wir uns die Welt ins Wohnzimmer, auch Pläne schmieden für die Zukunft ist dran, auch wenn wir noch nicht wissen, wann wir wieder reisen und unsere Verwandten sehen dürfen. Siehst Du diese Mischung aus physischem Stillstand und mentaler Beweglichkeit auch als Widerspruch?
AS: Mit dem „physischen Stillstand“ bin ich nicht ganz in Übereinstimmung. Unser Raum ist begrenzter, aber er zwingt uns nicht in ebendiesen Stillstand. Wir leben mit notwendigen Einschränkungen und sind nun gefordert, herauszufinden, wie jeder diesen Raum für sich und möglicherweise auch für seine Familie, sein direktes Umfeld nutzen und gestalten kann.
„Die Mischung aus physischem Stillstand und mentaler Beweglichkeit ist für mich ein sehr erfüllender Zustand.“
Ariane Seidel
Diese von Dir beschriebene Mischung aus physischem Stillstand und mentaler Beweglichkeit mag zunächst wie ein Widerspruch klingen, bietet aber auch genau die Qualitäten, die ich im Rahmen einer Meditation, einer Fantasiereise, einem Gebet, einer Achtsamkeits- oder Atemübung, sowie auch in Tagträumen und gezielten rationalen, geistigen Aktivitäten erleben kann. Für mich persönlich ist es ein sehr erfüllender Zustand. Nun gehöre ich allerdings auch zu den eher introvertierten Gemütern, denen nachgesagt wird, dass die derzeitige Krise ein Geschenk für sie ist, wohingegen sich die Extravertierten eher Zuhause ein- und aus der Gesellschaft ausgesperrt fühlen. Vielleicht besteht gerade jetzt für Letztere eine Möglichkeit, diese Zeit zu nutzen, um das Innenlicht etwas heller zu stellen, und auf Entdeckungsreise zu gehen.
EH: Das Innenlicht etwas heller stellen, ein wunderbares Bild! Wenn ich die jetzige Krise für kontemplative Techniken nutze, besteht dann nicht die Gefahr, dass man gar nichts mehr geschafft bekommt?
AS: Ganz klar, es kommt auf die Balance an zwischen kontemplativen Techniken, Bewegung und Alltagstätigkeiten. In verschiedenen neurowissenschaftlichen Studien wird belegt, dass Meditation und Achtsamkeitspraktiken Auswirkungen sowohl auf die Gehirnstruktur als auch auf die Aufmerksamkeitsregulierung haben. Ich möchte Dir ein Beispiel zum Ansatz „Mindful Based Stress Reduction“ (MBSR) aus dem Artikel „Achtsamkeit als bedeutende Führungskompetenz“ geben, den ich mit Prof. Dr. von Au veröffentlicht habe. MBSR ist achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, die z.B. im Rahmen einer achtwöchigen Gruppenintervention erlebt werden kann. Dr. W. Lazar hat im Rahmen seiner Forschungsergebnisse folgende Vorteile durch MBSR benennen können:
- Verminderte Stresswirkungen
- Geringerer Gedankenfluss
- Geringerer Rückfall bei Depressionen
- Abnahme der Reaktivität bei Schmerzen und Bedrohungen
- Größere Resilienz
- Größere Lebensqualität
- Erhöhte selektive Aufmerksamkeit
- Mehr Freude am Leben
- Größeres Wohlbefinden
Wenn diese Qualitäten das Ergebnis kontemplativer Techniken sein können, könnte das dann nicht auch Belohnung und damit Motivation genug sein, in Meditation & Co einzusteigen?
Aber nicht nur Meditation ist gut für unsere geistige und körperliche Verfassung, wir brauchen auch körperliche Bewegung, was die Neurowissenschaftlerin Dr. M. Macedonia sehr anschaulich in dem Buch „Beweg Dich! Und Dein Gehirn sagt Danke!“ beschreibt.
EH: Und wenn ich herausgefunden habe, was mir guttut. Wie schaffe ich es dann, dieses auch umzusetzen? Es ist ein wenig wie ein Zeitmanagement Seminar zu besuchen, dort ist alles sonnenklar, aber die Tools auch im Alltag und in einer hektischen Situation zu nutzen, ist oft schwer bis unmöglich!
„In Krisenzeiten sind wir im Stress, weil wir für die vorhandene Situation keine Bewältigungsstrategie haben.“
Ariane Seidel
AS: Das Phänomen, das Du beschreibst, ist nachvollziehbar. In Krisenzeiten sind wir im Stress, weil wir für die vorhandene Situation keine Bewältigungsstrategie haben. Eine Pandemie ist eine gänzlich neue Situation, in der wir in der Gesellschaft kollektiv keine Bewältigungsstrategie haben. Neben dem ganz persönlichen Stress erleben wir also einen kollektiven Stress. Was im Stress hilft, ist die Bereitschaft anzuerkennen, dass das, was gerade passiert, da ist und eine reale Auswirkung auf mich und mein Umfeld hat. Darüber hinaus helfen Fähigkeit zur Improvisation, Kreativität, Lösungsorientierung und ein Funken Optimismus.
Ich brauche genau die Ressourcen, die mir sehr wahrscheinlich im Zustand des Stresses nicht einfach zur Verfügung stehen. Und wenn ich nicht direkt jemandem habe, mit dem ich mich darüber austauschen kann (geteiltes Leid ist halbes Leid), komme ich unter Umständen schnell in eine Überforderung.
EH: Wie bekomme ich den Zugang zu diesen Ressourcen?
AS: Ich denke, das unterscheidet sich mit den jeweils vorhandenen Vorerfahrungen. Wenn ich bisher nicht mit kontemplativen Techniken vertraut gewesen bin, und diese mit den derzeit vorhandenen Kontaktbeschränkungen lernen möchte, empfehle ich, zunächst etwas Zeit für Recherche, Struktur und Planung zu investieren.
Die Recherche dient zur Entdeckung der Vielzahl an wunderbaren Angeboten, die online z.B. von Yoga-Lehrern, Meditationslehrern, etc. gemacht werden. Auf YouTube findet man z.B. geleitete Meditationen, Klangmeditationen, Vipassana-Anleitungen, Qi-Gong oder Yoga mit einleitenden Meditationen, und vieles mehr.
„Ich empfehle 30-60 Minuten Selbstzuwendung täglich.“
Ariane Seidel
Die Struktur und die Planung dienen zur Stärkung der eigenen Selbstdisziplin und zur Zähmung des inneren Schweinehundes. Erfahrungsgemäß ist für viele abends nach gelebtem Alltag der innere Schweinehund sehr groß und starrköpfig. So gilt es für, für sich herauszufinden, wann das beste Zeitfenster für die täglichen ca. 30-60 Minuten Selbstzuwendung sind, um sich realistisch, bewusst und motiviert dem Thema nähern zu können.
Auch hier muss letztendlich jeder für sich selbst herausfinden, welche Technik spricht mich an, motiviert mich mit dem Ergebnis so, dass ich mich darauf einlassen kann. Dazu mag es auch helfen, sich mit anderen auszutauschen.
Und für all diejenigen, die vertraut sind mit kontemplativen Techniken, stellt sich die Frage, was brauche ich, um meine Ressourcen zu re-aktivieren?
Für alle gilt jedoch gleichermaßen, ich brauche eine Belohnung, um so motiviert zu sein, dass ich in die kontemplative Handlung komme.
Für diese Motivation möchte ich eine interessante Erkenntnis aus einem Seminar von Dr. Wolf-Dieter Nagl zum Thema „Die mächtige Kraft des (Unter-)Bewusstseins steuern lernen“ teilen. In diesem Seminar wurde die mir bereits bekannte positive Wirkung bewusster Atmung aus neurowissenschaftlicher Sicht um eine kardiologische Sicht ergänzt. Herr Dr. Nagl hat mit einem Teilnehmer eine beeindruckende Messung zu einer Atemübung vorgeführt, die eine signifikante regenerierende Auswirkung auf die Pulsfrequenz und die Herzratenvariabilitätsfrequenz zeigte. Diese Übung hat gerade mal eine Minute gedauert und den positiven Effekt konnten wir in Echtzeit anhand der gezeigten Messung mitverfolgen. Das war für mich ein echtes AHA-Erlebnis und hat mich nachhaltig motivierend beeindruckt.
EH: Also, um aus der Anspannung rauszukommen empfiehlst Du uns zu atmen?
AS: (lacht) Ja! ATMEN! ATMEN! ATMEN! Einatmen, ausatmen! Einatmen, ausatmen! Einatmen, ausatmen!
Bewusst einatmen und bewusst ausatmen! Bewusst einatmen und bewusst ausatmen!
Und wenn ich mich dann erst mal „runtergeatmet“ habe, dann kann ich wahrscheinlich wieder reflektierend auf meine Ressourcen zugreifen, die mich bei meiner Selbstregulation unterstützen.
EH: Für alle, die gerne diese Methode gerne ausprobieren und Arianes wundervolle Stimme hören wollen: ihr findet auf meinem YouTube Kanal Change Management & Coaching eine von ihr selbst gesprochene Körperreise zur Entspannung.
Ariane, ich danke Dir für dieses Gespräch!
Ihr lieben Leser und Leserinnen, was macht ihr, wenn ihr euch im „rasenden Stillstand“ befindet? Habt ihr euch schon mal erfolgreich „runtergeatmet“? Was hilft euch für mehr Selbstzuwendung? Teilt es gerne in den Kommentaren! Ihr erreicht Ariane Seidel und ihr Unternehmen systemisch bewegen via E-Mail kontakt@ariane-seidel.de, Homepage: www.ariane-seidel.de oder Mobil 0151 675 15 971. Sie wohnt in der Nähe von Hannover, coacht deutschland- und weltweit via Skype.