Quarantäne mit Kindern: Eine Anleitung zum Überleben ohne mentale Schäden

Draußen ist es kalt und die Zahlen steigen. Jeden Tag der bange Blick auf die Testergebnisse aus Schule und Kindergarten. Jeden Tag gibt es Meldungen aus dem direkten Umfeld, welche Familien sich aktuell in Quarantäne befinden, weil jemand erkrankt ist oder als Kontaktperson eingestuft wurde. Es ist nur noch eine Frage der Zeit und auch wir werden uns wieder in unserem Haus isolieren müssen.

“Ich kann kaum noch” schreibt Sybille Berg im November 2021 im Spiegel

Darin beschreibt sie sehr gut das aktuelle Befinden der Nation (“Erregung” über “Zahlen, die keiner versteht”) sowie die Erschöpfung im Umgang mit der Situation (“Ich halte mich nur mühsam aufrecht; ich versuche zu funktionieren, aber eigentlich habe ich an nichts mehr eine Freude.”). Bis dahin stimme ich mit ihr überein.

Aber die im Titel erwähnten Möglichkeiten, ohne mentale Schäden durch die nächste Welle zu kommen, sind sehr schwach (“Bücher lesen, Brot backen, etwas Neues lernen”). Der letzte Satz ist für Eltern nutzlos. “Bleiben Sie freundlich. Zu allen.”  Nett sein ist schon in normalen Zeiten in der Jobbeschreibung von Eltern enthalten.

Quarantäne bedeutet absoluter Ausnahmezustand – für alle

Die Bedürfnisse der Kinder nach Bewegung und sozialem Spiel bleiben unbefriedigt. Kurzfristig ist es relativ leicht, die Isolation für die Kinder zu kompensieren (die screen time geht hoch und es herrscht Ruhe). Dauert der Ausnahmezustand aber länger als ein paar Tage, müssen andere Strategien her, damit Kinder und Eltern keinen Schaden nehmen.  

Quarantäne mit Kindern überstehen ohne mentale Schäden

Ich bin dreifache Mutter. Wir haben ein Schulkind und zwei Kindergartenkinder. Hinter uns liegen über 80 Tage Lockdown in Sao Paulo, Brasilien. Was hat uns und befreundeten Familien geholfen, Quarantäne mit Kindern ohne mentale Schäden zu überstehen?

Hier teile ich konkrete Tipps, wie man als Familie den Tag strukturieren und wie jeder sein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein erfüllen kann. Ich zeige, wie Eltern in dieser Zeit Sinn stiften und sich Hilfe holen können. 

Den Tag strukturieren

Tagesplan gut sichtbar aufstellen: Wir haben uns dafür ein Whiteboard und die entsprechenden Stifte zugelegt. Größere Kinder haben Spaß daran, selbst zu schreiben oder die passenden Bilder dazu zu malen.   

Sichtbar machen, was getan werden muss: Meiner Erfahrung nach macht sich schnell ein Gefühl von Erschlaffung breit. Selbst Anziehen und Zähneputzen wird diskutiert… oder vergessen. Eine Agenda fördert den nötigen Fokus auf Mahlzeiten, Schularbeiten, Pausen etc. Selbst die kleinste Sache darf hier erwähnt werden!

Abhaken: Das macht allen Spaß und gibt ein Gefühl der Befriedigung in einer Situation, in der eigentlich keine Befriedigung möglich ist.   

Reflektieren: Am Ende des Tages haben wir uns gefragt: Wie ist es uns heute ergangen? Mein Sohn hat dafür eine Reihe von Smileys aufgemalt: vom Lachgesicht, über Geht-So bis ganz traurig. So kann selbst das kleinste Kind ausdrücken, wie es sich fühlt. Und jeder kann äußern, was man morgen vielleicht besser machen könnte. 

Grenzen setzen

Familienregeln aufstellen und überprüfen: Dieses Blatt war ein wahrer Lebensretter. Wie fängt man an? Ganz einfach: Jeder nennt eine Regel, die ihm oder ihr besonders wichtig ist. Bei uns waren es: “Keine elektronischen Geräte am Tisch” (Wunsch von den Kindern) und “Wenn jemand schläft, lassen wir ihn schlafen” (Wunsch von Papa). Meine Lieblingsregel: “Wenn jemand auf der Toilette ist, lassen wir ihn in Ruhe.” Ganz wichtig ist, die Regeln gemeinsam zu vereinbaren, somit gelten sie für ALLE. (Das musste ich mir tatsächlich hart erkämpfen. Ja, auch ICH als Mutter habe diese Rechte!) Familienregeln bei Bedarf anpassen, aber auch nur mit dem Einverständnis von allen.

Bitte nicht stören Schild an die Tür machen: Jeder von uns hat sich ein Schild gebastelt. Hängt das vor der Tür, bedeutet das: bitte nicht stören. Jeder hat das Recht auf Ruhe und Abstand von den anderen.   

Früh schlafen gehen: Gerade im Winter eine Wohltat! Und verpassen tut man ja eh nichts. Alles, was man abends hinlegt ist morgens noch genauso da. Eine aufgeräumte Küche ist schön, aber in Quarantänezeiten ist das Seelenheil wichtiger.   

Sinn stiften

Wünschebox installieren: Unendlich viel Energie geht verloren, wenn Eltern versuchen, vor allem ältere Kinder zu IRGENDETWAS zu bewegen. Viel besser ist es, die Kinder wählen zu lassen, was sie machen möchten. Eine Freundin hat eine Box installiert. Die hat jeder mit Wunschzetteln gefüttert. Jeden Tag wurde ein Zettel gezogen und dann wurde Party gemacht, im Wohnzimmer gecampt, gepicknickt … und alle waren mit Begeisterung dabei. 

Tun, was der Seele guttut: Essen funktioniert immer. Wir haben oft Plätzchen gebacken (im Mai war brasilianischer Winter). Da das Matschen meinen Kindern am meisten Spaß gemacht hat, sind wir irgendwann auf Salzteig umgestiegen. Ist günstiger und wird härter 😊 Auch Malen ist eine Möglichkeit, Konzentration und Flow zu fördern. Die Investition in gute Farben und Pinsel haben sich bei uns immer in Entspannung und Zufriedenheit ausgezahlt. 

Für Bewegung sorgen: Während ich in der Quarantäne Yoga mit Mady für mich entdeckt habe, hat das “mit den Kindern Sport treiben” nie geklappt. Die Kinder haben sich die Videos gerne angeschaut, sind dabei aber in Sekundenschnelle in Fernseh-Starre verfallen. Lieber Sofa, Tische und Bänke freigeben, damit sich die Kinder selber einen Parkour aufbauen können. Warum nicht auf dem Sofa hüpfen? Schaukel oder Tischtennisplatte im Wohnzimmer installieren? Wann, wenn nicht jetzt…

Spielen, wofür sonst die Zeit fehlt: Endlich mal ausgiebig spielen. Neue Regeln und Varianten ausprobieren. Das macht vor allem den größeren Kindern Spaß. Die Carcassone Big Box haben wir bis heute noch nicht ausgeschöpft.

Dankbarkeit kultivieren: Ganz einfach morgens und abends aufschreiben (z.B. ins 6 Minuten Tagebuch), wofür man dankbar ist. Das sind dann vielleicht ganz kleine Sachen, eine neue Zahnbürste oder so. Egal, wichtig ist die Denkrichtung. Die Aufmerksamkeit auf etwas, das gut und richtig ist. Dann findet man auch in weit schwierigeren Situationen schneller etwas, was auch da gut und richtig ist.

An einem wichtigen Ding arbeiten: Das hilft mir persönlich immer am meisten. Ich habe in der ersten Welle gemeinsam mit meiner Mutter (!) einen Artikel geschrieben: Resilienz – Die Kunst der psychischen Widerstandskraft. Was dort steht ist immer noch aktuell 😊 Was auch immer Dich interessiert, nutze die Zeit auch für Dich und grabe Dich noch ein Stückchen tiefer in die Materie ein.

Meditieren lernen: Es gibt ganz hervorragende Apps, mit denen das auch Einsteigern gelingt. Ich habe Headspace für mich entdeckt. Es gibt die ersten 10 Tage einen gratis Basiskurs, danach hat man sich an den Akzent des Sprechers verliebt und will seinen Tag nie wieder anders starten. Mit Kindern ab 5 geht das auch (z.B. mit Eline Snel, Stillsitzen wie ein Frosch). Aber ehrlich gesagt brauchte ich die Seelenruhe mehr als die Kinder.

Das Beste draus machen: Das sagt sich leichter, als es ist. Wichtiger Dreh im Kopf: Ansprüche erkennen und konsequent runterschrauben, bis die Antreiber-Stimmen im Kopf fast nicht mehr hörbar sind. Pandemie sind besondere Umstände und die erlauben besondere Maßnahmen. Mit den Ansprüchen von “draußen” hat diese besondere Form der Familienzeit nichts gemein.   

Hilfe holen

Kontakte pflegen: Ganz ehrlich, Quarantäne und das Leben einer jungen Mutter sind nicht sehr weit voneinander entfernt. Wir haben schon im Normalzustand einen kleinen Radius, kaum Sozialkontakte und fühlen uns oft hundemüde bis miserabel. Trotzdem gibt es eine Handvoll Personen, die zu Dir halten, auch im dicksten Schlammassel. Schreib Nachrichten, versuch mal kurz zu telefonieren. Das macht einen großen Unterschied.

In der Nachbarschaft um Hilfe fragen: Anderen zu helfen bringt sofortige Freude, ist aber während der eigenen Isolation eher schwierig. Aber man könnte Nachbarn um Hilfe fragen, einfach anrufen oder eine Nachricht schreiben. Den meisten Menschen macht es eine Freude, helfen zu können! Je konkreter die Anfrage, desto eher wird geholfen. Viele Dinge (Kinderbücher oder frische Eier) kann man einfach kontaktlos vor die Tür stellen. Revangieren kann man sich ja später… Denn eines Tages ist auch diese Quarantäne wieder vorbei. Ganz bestimmt.

Darüber reden hilft: Die Nummer gegen Kummer lautet 116111. Seit 2001 gibt es auch das Elterntelefon 0800 111 0 550. Ein kostenloses Angebot für Gespräche, Beratung und Informationen.  

Und während ich an diesem Artikel schreibe, läuft folgende Meldung über den Ticker:

Fachverbands-Chef fordert die Abschaffung von Quarantänepflicht für Kinder

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, Tobias Tenenbaum, will Kindern die Quarantäne ersparen. 

“Sofern regelmäßige Testungen mit negativen Ergebnis vorliegen, solle man Kontaktpersonen nicht den Zugang zu Kitas oder Schulen verbieten.” 

Denn angesichts der steigenden Infektionszahlen, käme die Regel für viele Familien einem Lockdown gleich. Er rät zu Pragmatismus. Es gebe mit Masken, Lüftungen, Tests und Impfungen inzwischen ausreichend Instrumente, um die Einrichtungen zum Wohle der Kinder offen zu halten, sagte Tenenbaum. 

Ich stimme seiner Meinung zu. In dieser Woche wurden (zumindest in NRW) die Regeln schon angepasst, so dass jedes Kind mit negativem Testergebnis Schule oder Kindergarten besuchen darf.

 

Was hilft euch mit Kindern in Quarantäne? Lasst es mich gerne wissen und schreibt mir eine  mail@estherhagemann.com

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